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AUFSTAND IM GEMÜSEBEET
1

Alfons, die hochrote Tomate wischte sich die Tautropfen von der Haut und plusterte sich auf. Mit weit aufgerissenen Mund rief er den anderen Tomaten seines Beetes zu.

"Beeilt euch ! Durch den Regen hattet ihr lange genug Zeit auf der faulen Haut zu sitzen und Farbe anzusetzen. Jetzt wird wieder gearbei­tet."

Gequält und von dem lange andauernden und immer wiederkehrenden Regen ermüdet, wälzten sich die Tomaten durch das Gemüsebeet.
Die Tomaten waren für die Säuberung der einzelnen Beet reihen zustän­dig und mussten sie von Blättern und Dreck freihalten.
Von der anderen Seite des Beetes ertönte die schrille Stimme von Kurt, dem hochgewachsenen Lauch.
"Na los, nicht so lahm ihr müden Stängel. Wir wollen doch mal sehen, dass hier wieder ein bisschen Ordnung reinkommt."
Kurt war die Aufsicht für das gesamte Lauch und hatte dafür zu sor­gen, dass sämtliches Gemüse in Reih und Glied stand und wohl gewachsen das Auge eines jeden Betrachters erfreute.
Das Lauch schickte sich an alle aus der Reihe tanzenden Gemüse wie­der zu ordnen und zurechtzurücken, als vom hintersten Ende des Beetes eine donnernde Stimme ertönte, die die Erde erzittern ließ.
" RUHE !"

Sofort erstarb jeder Ton. Nicht einmal die Petersilie bewegte sich in der leichten Brise, die von Westen her wehte.

"Was soll das Geschnatter? Ich möchte etwas mehr Disziplin beim ar­beiten!" bebte die tiefe Stimme von Berthold, der mächtigen Kartoffel mit den vielen Augen.
Berthold war schon seit mehr als zwei Sommern der Chef dieses Gemüsebeetes und er hatte bis jetzt jedes junge Gemüse erzogen. Wer ihm nicht gehorchte, der verschwand vom Beet und wanderte auf den Kom­posthaufen.

Hier und da gab es immer irgendwelche Nörgler, aber es war nie schwierig für Berthold die Situation wieder in den Griff zu kriegen.
Gemächlich marschierte Berthold durch das Gemüsebeet, vorbei am Blumenkohl, der sofort seine Blätter über sich zog, als Berthold näher ­kam. Ebenso, wie den Blumenkohl ließ er die Bohnen und die Tomaten links liegen und ging direkt zu seinem Platz am Kopf des Gemüsebeets. Von dort beobachtete der die einzelnen Gemüseleiter und die dazu gehö­renden Gemüsesorten.
2

Die dicken Regenwolken der letzten Tage hatten den Himmel verlassen und machten der Sonne Platz, die die ganze Kraft ihrer Strahlen auf das Gemüsebeet fallen ließ. Den kleinen, grünen Tomaten lief der Schweiß in Strömen an der Haut herunter und ihre Wangen färbten sich rötlich. Die noch winzigen Lauchstängel reckten ihre Köpfe in die Höhe, um Kurt besser zu verstehen. Der Blumenkohl verseuchte Würmer, die sich aus dem Erdreich an das junge Gemüse heranmachten und die Petersilie-Jünglinge beobachteten ihre älteren Gemüsebekannte bei der Arbeit.

Nur Jakob, der kleine, wuschelige Petersilie blickte neugierig durch das Geäst und Blattwerk der Hecke, die das Gemüsebeet vom Nachbar­grundstück trennte.
Sein kleiner Kopf zwängte sich durch die freien Flächen der Hecke. Sie war nicht sonderlich groß und leicht durchgängig.
Jakob blickte erstaunt auf die andere Seite der Hecke und wusste im ersten Moment nicht was er sagen sollte.
Auf der anderen Seite der Hecke, auf dem Nachbargrundstück befand

sich ebenfalls ein Gemüsebeet. Zumindest sollte es wohl eines darstellen, aber was Jakob erblickte war ein riesiges Chaos und Durcheinander an Gemüse.

3
Sein Blick viel auf eine riesige, fette, überreife Tomate, die sich zwischen altem Laub und Moos in der Sonne rekelte. Neben der Tomate fläzte sich eine alte, runzlige Kartoffel in der modrigen Erde. Sämtliches Gemüse des Nachbargartens lungerte irgendwo im Beet herum und genoss die Sonnenstrahlen, ohne auch nur ein Blatt oder eine Wurzel zu krüm­men. Kein Gemüse dachte dort auch nur an Arbeit.
Jakob stockte der Atem. Nicht weil er von dem Anblick abgestoßen wurde, sondern, weil er ihn genoss. Das musste die Freiheit sein. Jeden Tag auf der Haut liegen, die Wurzeln von sich strecken und leben. Diese Gedanken gingen Jakob durch den Kopf, als er unsanft in die Wirklichkeit zurückgeholt wurde.
"Was wird das denn da?" ertönte die tiefe Stimme von Baldur dem Petersilieaufseher.
Zwei Helfer zogen Jakob zurück ins Beet und brachten ihn zu seinem Arbeitsplatz.
4
Die Sonne versank langsam am Horizont und tauchte die Welt in ein rötlich-weiches Licht. Eine leichte Brise wehte durch Jakobs Petersilien­büschel. Seine Augen schlossen sich und seine Gedanken wanderten zu einer anderen Welt.
Eine Welt ohne Arbeit, ohne schmerzende Stängel, eine Welt, die aus Glück, Genuss und Liebe bestand.
Vor seinem geistigen Augen bildete sich der Wunschtraum dieser Welt deutlich und so greifbar,
dass Jakob nur einen winzigen Schritt machen

müsste, um in dieser Welt zu verschwinden. Aber nicht nur er würde in dieser Welt versinken und bis ans Ende der Welt glücklich sein, auch Beatrice die wohlgeformte Petersilie, in deren grüne Augen er gestern zum ersten mal blickte, würde mit ihm in diese Welt entschwinden. Al­len stand solch eine Welt zu. Jedem einzelnen Gemüse. Selbst Alfons.

Jakob öffnete seine Augen und blickte in den mittlerweile mit Sternen übersäten Himmel.

"Ich muss allen von diesem Garten erzählen." dachte er. "Jeder muss wissen, was für ein Leben hinter diesen Hecken auf uns wartet."

In dieser klaren, mit Sternen übersäten Nacht schlich Jakob von einem GEMÜSE zum anderen. Jedem teilte er mit, was er hinter dieser Hecke er­blickt hatte. Vor den Augen der anderen malte er seine Visionen von ei­nem glücklichen Leben mit den schönsten Farben aus. Mit weit aufgerissenen Augen hörten sie Jakob zu und ihre Münder schlossen sich nur sehr langsam, so fasziniert waren sie von der Möglichkeit ein ruhiges und glückliches Leben zu führen.

5

Der Morgen eines neuen Tages brach heran und die Sonne machte sich auf ihren Weg. Ein Weg, den sie schon seit MILLIONEN von Jahren gezogen war und den sie jeden Tag von neuem antrat, ohne je daran zu zweifeln, ob dieser Weg der richtige Weg war. Ihre warmen Strahlen berührten zaghaft die Blumenkohlblätter, danach den Lauch, bis sie jedes Gemüse im Beet zu neuem Leben erweckt hatte.
Alfons stand am Fuße des Beets und wartete bis alle erwacht waren.
"Raus mit euch! Ein neuer Tag mit neuer Arbeit erwartet euch." rief er mit seinem unverkennbaren Ton über das ganze Beet hinweg.

Die Kartoffeln erhoben ihre schwerfälligen Körper und wälzten sich durch die Rabatten. Sonst rührte sich nichts. Langsam bewegten sich die

Kartoffeln vorwärts und das Geräusch ihrer dicklichen Körper in der trocknen Erde schien das einzige Geräusch auf Gottes weiter Welt zu sein.
"Was Ist denn hier los?" dröhnte Bertholds wütende Stimme. Wie ein Blitz durchschnitt sie die Stille und jede Bewegung und jedes Geräusch im Gemüsebeet erstarb.

Bertholds imponierender Körper stand am Beet und warf einen riesigen Schatten, der die Welt zu verdunkeln schien.
"Ich traue meinen Augen nicht. Wollt ihr wohl an die Arbeit gehen." Berthold steigerte sich immer mehr in seine Wut und seine Ausdrücke wurden ausfällig, aber nichts rührte sich. Die Kartoffeln standen re­gungslos in der Mitte des Beetes, unschlüssig, ob sie nun an die Arbeit sollten oder ob sie Bertholds Wutausbruch abwarten sollten.
In der hintersten Ecke des Beetes lugte Jakob hervor. Sein grüner Petersilienbuschel schaukelte aufgeregt auf und ab.

Zaghaft näherte er sich der Mitte des Beetes und blieb vor den Kar­toffeln stehen.
"Wir haben beschlossen etwas kürzer zu treten." sagte Jakob in ruhi­gem Ton.
"Was heißt hier kürzer treten? Ich bestimme wer was wann macht. Ist das klar?" brüllte Berthold über die Kartoffeln hinweg. Jakob wurde von Bertholds Lufthauch erfasst und ein Stück davongetragen.

Berthold schaute fragend auf Alfons, doch dieser schaute verlegen zu Boden, wurde noch etwas röter und zuckte mit den runden Schultern, um deutlich zu machen, dass er, -unschuldig wie er schon immer war-, von alle dem nichts wusste.

6

"Ja wissen sie, " antwortete Jakob, nachdem er sich wieder aufgerappelt hatte. " es ist so, dass wir ein Leben mit den schönsten Seiten vor­ziehen. Am Rand des Nachbarbeets haben wir festgestellt, dass es mehr gibt als Arbeit, Arbeit und Arbeit."
"So so, es gibt also noch etwas anderes als Arbeit, Arbeit und Arbeit!" antwortete Berthold mit einem zynischen Unterton und dem Anflug eines Lächelns auf den Lippen.
"Ja so ist es." wollte Jakob antworten, doch drei treue Bertholdkartoffeln packten ihn und schleppten ihn davon.
"Es gibt noch viele Dinge außer Arbeit." lachte Berthold "Und einige davon wirst du noch kennenlernen."

7

Die Kartoffeln schleppten Jakob in eines ihrer Verliese. Dort sollte er den gesamten Tag und die folgende Nacht verbringen. Zur gleichen Zeit redete Berthold auf die anderen Gemüse ein und versuchte ihnen deutlich zu machen, dass das Leben nun einmal aus Arbeit besteht.
"Ohne Arbeit erreicht man nichts in seinem Leben." schloss Berthold und schaute eindringlich auf die Versammlung der verschiedenen Gemüse.
Diese schauten sich betrübt und fragend an. Jeremias der gertenschlan­ke Spargel erhob sich und wandte sich seinen Freunden zu.
"Es mag sein, dass Berthold recht hat, aber Jakob hat auch recht und ich finde wir dürfen uns die schönen Seiten des Lebens nicht vorenthal­ten lassen."
Ein bestätigendes Räuspern ging durch die Menge und Berthold blickte grimmig auf Jeremias.
"Wir können es doch nicht einfach zulassen, dass sie Jakob einsperren, nur weil er seine Meinung geäußert hat." fuhr Jeremias fort. "Lasst Jakob erst einmal frei, bevor wir weiter reden."
Zustimmende Rufe kamen aus der Runde. Die Menge wurde immer lau­ter, erhob sich und in wenigen Sekunden war ein Tumult entstanden. Die Gemüsemenge bewegte sich auf das Verlies zu, um Jakob zu befreien.
Wild entschlossen stapften sie durch die Rabatten und walzten die Erde platt.
Berthold rief seine Kartoffeln zusammen und beauftragte Alfons sämt­liche Tomaten bereit zuhalten.
Noch bevor die Menge das Verlies erreichte war sie von den Kartoffeln umringt. Vor dem Verlies hatten sich die meisten Tomaten versammelt, um den Zugang zu versperren.
"Sperrt sie alle ein!" rief Berthold
"Lasst keinen entkommen!" brüllte Alfons, wobei er sich aufplusterte, damit er etwas imposanter aussah und nicht in Bertholds Schatten stand.
Die Kartoffeln schlossen ihren Kreis um das GEMÜSE immer enger bis sie nur noch einen Schritt von ihnen entfernt waren.
"Gebt nicht auf Freunde!" rief Jakob aus dem Verlies. "Jetzt sind wir schon so weit gegangen. Unsere Freiheit ist nicht mehr weit. Befreie euch von dieser Knechtschaft."

"Ja, nehmt allen Mut zusammen!" brüllte Jeremias und Balthasar der Grünkohl schloss sich ihm an.

Mit aller Kraft warfen sie sich gegen die Kartoffeln und zerbrachen den Kreis. Berthold schaute mit weit aufgerissenem Mund zu, wie sich das Gemüse auf die Tomaten vor dem Verlies stürzte und ein oder zwei von ihnen zermatschte.

Mit einem ohrenbetäubenden Geräusch zerbarst die Tür zum Verlies und Jakob war frei.
Jetzt waren sie im Siegestaumel. Nichts konnte sie aufhalten. Keine Tomate und keine Kartoffel durfte sich ihn in den Weg stellen.

Der Aufstand hatte begonnen. Die Befreiung des Gemüses nahm ihren Lauf.
Einige von ihnen stürzte hinter Berthold hinterher. Schließlich war er es gewesen, der sie zu Sklaven gemacht hatte. Sklaven der Arbeit. Und
alles nur, um ein perfekt organisiertes Gemüsebeet zu haben.

8

"Leb wohl." lachten sie alle, als sie Berthold in hohem Bogen über die Hecke schleuderten und damit seine Herrschaft über das Gemüsebeet beendeten.

"Jetzt beginnt ein neues Leben für uns." sagte Jakob und schaute seine Kampfgefährten mit feuchten Augen an. Wie ein Mann hatten sie ge­kämpft. Jeremias, Balthasar, Hubert die Salatgurke, Karl der Blumenkohl, Lothar das Kohlräbchen und alle anderen. Wie eine Familie standen sie im Kreis, umarmten sich und sangen alte Lieder.
Die Sonne versank hinter den Gipfeln der fernen Berge und tauchte das Gemüsebeet in ein orangerotes, warmes Licht, in dem die Schatten der Gemüse sich rhythmisch bewegten.

9

"Was machen wir jetzt?" fragte Gertrude, das Schnittlauch.

"Nichts." antwortete Jakob. "Das ist es doch, wofür wir gekämpft hat­ten."

"Wir gemessen jeden Tag und liegen in der Sonne herum." sagte Jere­mias. "Wir laufen durch das Beet oder machen verrückte Spiele. Jeder macht was er will. Jeder ist sein eigener Herr."
"Ach so." war die einzige Antwort die Gertrude gab und davon wedelte.

"Mit solchen kleinen Geistern werden wir noch genug beschäftigt sein.” sagte Jakob zu Jeremias.

"Da wirst Du nicht unrecht haben.” antwortete dieser.

10

Die Tage gingen ins Land und die Gemüse erlebten ihre Tage in sonni­gem Nichtstun. Nach und nach hatten sich alle daran gewöhnt, dass man die Tage auch durch Faulenzen verbringen kann Das Leben bestand also doch noch aus etwas anderem als Arbeiten. Jakob hatte sich zu so et­was, wie dem Sprecher des Gemüsebeetes entwickelt. Wenn Fragen auf­traten, kamen alle zu Jakob angerannt und er wusste immer irgendeine Antwort, die alle zufrieden stellte.
Die Trägheit hatte sich so breit gemacht, dass keiner auch nur einen Stängel rührte, um das Unkraut zu vernichten. Es wuchs und wuchs und hatte bald das gesamte Beet überwuchert. Der Lebensraum der Gemüse­beetbewohner wurde mit jedem Tag knapper, aber keiner krümmte einen Stängel, um etwas zu ändern, denn Jakob erzählte jedem der fragte, dass dies alles so sein muss.
Die Sonne begann jetzt ihre sommerlichen Strahlen aus zuschicken und verwandelte das Gemüsebeet in ein Treibhaus. Die Bewässerung des Bee­tes funktioniert auch nicht mehr. Eine Katastrophe bahnte sich an.

11
Verhaltene Rufe wurde hörbar, aber sie drangen nur an taube Ohren.

Nichts vermochte die einzelnen Gemüse aus ihrer Trägheit zu holen, zu lange schon frönten sie dem müßigen Leben.
Die Tomaten bekamen faulige Stellen an ihrer roten Haut, bei den Kar­toffeln schossen die Augen hervor, der Lauch ließ seine Stängel hängen und die Petersilie bekam braune Flecken auf ihrem Büschel.

Als der Regen nach ein paar Wochen einsetzte war das Gemüsebeet am Ende. Alle lagen in ihrem eigenen, fauligen Saft, der aus der aufge­platzten Haut heraus sickerte.

Jakob lag am äußersten Ende des Gemüsebeetes und blickte müde auf die anderen Gemüsesorten.
"Was ist nur verkehrt gelaufen?" dachte er.
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